Steuerreform 2015/16 und kalte Progression 2010/2019. Eine Mikrosimulationsanalyse für Österreich (Tax Reform 2015-16 and Bracket Creep 2010-2019. A Microsimulation Analysis for Austria)
Wie die Mikrosimulation mit dem Austrian Tax Transfer Microsimulation Model (ATTM) zeigt, wird die für 2016 geplante Steuerreform
mit einem jährlichen Entlastungsvolumen von knapp 5 Mrd. € die seit der Steuerreform 2009/10 kumulierte zusätzliche Steuerbelastung
durch die kalte Progression nur zum Teil ausgleichen. Wird der Lohn- und Einkommensteuertarif nicht laufend an die für die
nächsten Jahre zu erwartende Inflation angepasst, dann dürfte die Entlastung durch die Steuerreform bereits in wenigen Jahren
wieder eliminiert sein. Darüber hinaus ist die kalte Progression mit möglicherweise nicht intendierten Verteilungswirkungen
verbunden, da sie die Steuerbelastung niedriger und mittlerer Einkommen gegenüber jener der höheren Einkommen verstärkt.
Keywords:Steuerreform, kalte Progression, Verteilungswirkungen, Mikrosimulation
Forschungsbereich:Makroökonomie und öffentliche Finanzen
Sprache:Deutsch
Tax Reform 2015-16 and Bracket Creep 2010-2019. A Microsimulation Analysis for Austria
In applying the Austrian Tax Transfer Microsimulation Model ATTM we show that the wage and income tax reform of 2016, which
will reduce yearly tax revenues by almost € 5 billion, will only partially compensate for the cumulated additional tax burden
due to bracket creep since the previous tax reform in 2009-10. The temporary reduction of the tax burden in 2016 will evaporate
in just a few years if the parameters of the tax system are not continuously adjusted to the inflation rate. Furthermore,
bracket creep leads to possibly unintended negative distributional effects, increasing the relative tax burden in the lower
and middle strata of the income distribution and reducing it in its upper part.
In einem progressiven Einkommensteuersystem steigt der Durchschnittssteuersatz mit der Bemessungsgrundlage. Ohne eine Indexierung
des Steuertarifs mit der Inflation entsteht dadurch eine inflationsbedingte steuerliche Mehrbelastung, die als kalte Progression
bezeichnet wird. Der vorliegende Kommentar stellt vier zuletzt öffentlich diskutierte Berechnungen der Wirkungen der kalten
Progression in Österreich zwischen 2010 und 2013 kritisch gegenüber. Dabei wird sowohl auf potentielle Verzerrungen der einzelnen
Berechnungsmethoden als auch auf Vor- und Nachteile der verwendeten Datensätze eingegangen. Unter Berücksichtigung der aufgezeigten
Aspekte lassen sich die erheblichen Unterschiede zwischen den Ergebnissen der analysierten Berechnungen weitestgehend erklären.
Die Zusatzbelastung der Lohnsteuerpflichtigen durch die kalte Progression wird 2015 2,87 Mrd. € betragen; kumuliert über den
Zeitraum zwischen den Steuerreformen 2009 und 2016 wird sie 10,77 Mrd. € erreichen. Die Entlastungen im Rahmen der Steuerreform
2015/16 werden damit zwar die Wirkung der kalten Progression für das Jahr 2016 kompensieren, nicht jedoch den gesamten Effekt,
der im Zeitraum von 2009 bis 2015 angefallen ist.
Die Simulation der Auswirkungen der Steuerreform 2015/16 auf die österreichische Wirtschaft mit dem ökonometrischen Input-Output-Modell
FIDELIO ergibt (als ökonomische Gleichgewichtslösung) eine Steigerung der privaten Nachfrage um knapp 2,5 Mrd. €, eine Ausweitung
der Wertschöpfung um 290 Mio. € und des Bruttoinlandsproduktes um 1,35 Mrd. €. Positive Effekte verzeichnen die Konsumbereiche
mit hoher Einkommenselastizität: Wohnungswesen, Handel, Finanzdienstleistungen. Wegen der hohen Einkommenselastizität liefert
die Modellsimulation auch für den Sektor "Beherbergung und Gastronomie" trotz Anhebung des Umsatzsteuersatzes und Registrierkassenpflicht
keinen Rückgang, sondern sogar einen mäßigen Zugewinn. Aufgrund des hohen Importanteils ergeben sich in der Sachgütererzeugung
– mit Ausnahme des Nahrungsmittelbereichs – nur geringe positive Effekte.
Die Steuerreform 2015/16 sieht ein Entlastungsvolumen von rund 3,9 Mrd. € im Jahr 2016 und 5,2 Mrd. € p. a. ab 2017 vor. Wenn
auch die geplanten Maßnahmen zur Gegenfinanzierung (2016: 3,6 Mrd. €, 2017: 4,4 Mrd. € ab 2018: 4,5 Mrd. € p. a.) zeitgerecht
und in vollem Umfang umgesetzt werden (Szenario 1 – "Regierungsszenario"), verringert sich der Steuerkeil, und die Nettoreallöhne
pro Kopf steigen um 3,1% (gegenüber dem Basisszenario ohne Steuerreform; Abweichungen in Prozent, kumuliert bis 2019). Dies
erhöht das verfügbare reale Einkommen der privaten Haushalte um 1% und den privaten Konsum um knapp ¾%. Das reale BIP nimmt
zusätzlich um ¼% zu, die Verbraucherpreise steigen um ½%. Unter diesen Bedingungen ist eine budgetneutrale Umsetzung der Steuerreform
durchaus möglich. Der gewählte Maßnahmen-Mix würde mittelfristig eine Verlagerung der Nachfrage vom öffentlichen zum privaten
Konsum und eine Verringerung der Abgabenquote (–½ Prozentpunkt) bewirken. Neben dem Regierungsszenario werden zwei Alternativszenarien
simuliert, die eine verzögerte (Szenario 2) bzw. unvollständige (Szenario 3) Umsetzung der Maßnahmen im Bereich der Betrugsbekämpfung,
der Einsparungen in der öffentlichen Verwaltung und der Subventionskürzungen unterstellen. Dadurch erhöhen sich die verfügbaren
Haushaltseinkommen stärker bzw. der öffentliche Konsum sinkt schwächer als im Szenario 1. Dies bewirkt (je nach Variante)
kurz- bis mittelfristig einen etwas stärkeren Anstieg des BIP (2019 gegenüber Szenario 1 bis zu +0,2 Prozentpunkte), aber
auch der Budgetdefizit- und der öffentlichen Schuldenquote (um bis zu +1 Prozentpunkt bis 2019).
Ein wesentliches Ziel der Steuerreform 2015/16 besteht darin, Lohn- und Einkommensteuerpflichtige spürbar zu entlasten. Von
zentraler Bedeutung ist demnach die Frage, wie sich die Steuerreform auf die Nettoeinkommen von Personen und Haushalten auswirkt
und welche Verteilungs- und Aufkommenseffekte von ihr ausgehen werden. Auf der Basis des WIFO-Mikrosimulationsmodells quantifiziert
der vorliegende Beitrag für das Jahr 2016 die Effekte der Veränderungen im Bereich der Lohn- und Einkommensteuer sowie der
Sozialversicherungsbeitragsstruktur. Das durchschnittliche verfügbare Haushaltseinkommen erhöht sich demnach durch die Reform
um 3,1%. Der absolute und der relative Nettoeinkommenszuwachs fallen im Allgemeinen umso höher aus, je höher das vor der Reform
erzielte Nettoeinkommen ist. Das gilt sowohl für die Erwerbs- und Pensionseinkommen als auch für die Haushaltseinkommen. Die
Einkommensungleichheit nimmt daher leicht zu. Haushalte mit Kindern profitieren in einem ähnlichen Ausmaß von der Reform wie
Haushalte ohne Kinder. Der simulierte Einnahmenausfall des Staates an Lohn- und Einkommensteuer beträgt rund 4,9 Mrd. €. Mehr
als die Hälfte (56%) davon entsteht durch die Mindereinnahmen im oberen Drittel der Verteilung der Haushaltseinkommen, während
etwa 12% dem unteren Einkommensdrittel zuzuordnen sind.
Die Steuerreform 2015/16 tritt zum größten Teil 2016 in Kraft und ist im Vollausbau ab 2017 mit Steuermindereinnahmen von
brutto 5,2 Mrd. € oder 1,4% des BIP verbunden. Kern ist eine Reform des Einkommensteuertarifs, die einen Ausfall von Lohn-
und Einkommensteuereinnahmen von 4,35 Mrd. € bewirken wird. Zusätzlich wird für unselbständig Beschäftigte die Negativsteuer
ausgeweitet, für Pensionisten, Selbständige und Bauern wird eine Negativsteuer neu eingeführt. Auch werden Verkehrsabsetzbetrag
und Kinderfreibetrag erhöht und die Pendlerförderung für niedrige Einkommen ausgebaut. Unternehmen und Selbständige profitieren
von einigen kleineren Steuerentlastungsmaßnahmen. Die Gegenfinanzierung erfolgt zu einem erheblichen Teil durch Maßnahmen
zur Betrugsbekämpfung. Darüber hinaus tragen die Einschränkung von Ausnahmen in der Einkommen- und Umsatzsteuer und die Erhöhung
der Kapitalertragsteuer auf Dividendeneinkünfte und Immobilienveräußerungsgewinne sowie der Grunderwerbsteuer zur Gegenfinanzierung
bei. Ergänzend sollen Einsparungen bei Bund und Ländern sowie eine gewisse Selbstfinanzierung für eine budgetneutrale Umsetzung
der Steuerreform 2015/16 sorgen.
Aktuelle Studien zur inflationsbedingten zusätzlichen Steuerbelastung aus der progressiven Einkommensbesteuerung (kalte Progression)
in Österreich kommen zu teils sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Eine Gegenüberstellung der Berechnungsmethoden in einem
einheitlichen Rahmen zeigt die Implikationen hinsichtlich einer (systematischen) Über- bzw. Unterschätzung der Wirkungen der
kalten Progression auf. Wie die vorliegenden Berechnungen zeigen, wird die Tarifreform 2015/16 die Einkommen (deutlich) mehr
entlasten, als für eine bloße Abgeltung der Wirkung der kalten Progression erforderlich gewesen wäre.
Die kalte Progression stand in letzter Zeit häufig im Mittelpunkt der wirtschafts- und steuerpolitischen Diskussion. Wie Schätzungen
auf Basis der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der Steuerstatistiken zeigen, machte der Progressionseffekt im Lohnsteueraufkommen
2013 gegenüber 2009 rund 2 Mrd. € aus. Das Lohnsteueraufkommen war somit 2013 um 2 Mrd. € höher, als es ohne Progression –
also bei einer proportionalen Entwicklung der Lohnsteuereinnahmen – gewesen wäre. Davon sind etwa drei Viertel der Inflation
und somit der kalten Progression zuzurechnen.
Die Einnahmen aus Lohn- und Einkommensteuer nahmen in Österreich in den letzten Jahren stark zu; dies löste eine intensive
Diskussion über die kalte Progression aus. Wie eine Simulation unter Berücksichtigung der Inflationswirkung zeigt, können
im Zeitraum von 2010 bis 2013 mit 4,6 Mrd. € rund 4,1% des Lohnsteueraufkommens der kalten Progression zugeschrieben werden.
Selbst in Zeiten mit schwachem Reallohnwachstum entfällt deutlich weniger als die Hälfte des Anstieges der Steuereinnahmen
auf die Wirkung der kalten Progression.